Pressemitteilung
der Internationalen Liga für Menschenrechte vom 5.04.2011
Urteilsbegründung im Beobachtungsfall des
Bürgerrechtlers Rolf Gössner liegt vor
Verwaltungsgericht liest Verfassungsschutz die Leviten.
Rehabilitierung nach fast 40 Jahren Grundrechtsbruch
Inzwischen hat das Verwaltungsgericht Köln seine
schriftliche Urteilsbegründung in dem Gerichtsverfahren Dr. Rolf Gössner
(Kläger) gegen Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz (Beklagte), vorgelegt. Das Gericht hatte bereits am
03.02.2011 festgestellt, dass die geheimdienstliche Dauerbeobachtung des
Rechtsanwalts, Publizisten und Vizepräsidenten der Internationalen Liga für
Menschenrechte, Rolf Gössner, über die gesamte Zeitdauer von 1970 bis November
2008 rechtswidrig war und dem Betroffenen ein Anspruch auf Rehabilitierung zusteht.
Mit der Urteilsbegründung (68 Seiten) hat das
Verwaltungsgericht Köln dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gehörig die
Leviten gelesen: Der Inlandsgeheimdienst hatte die beruflichen Arbeiten und
Bürgerrechtsaktivitäten von Rolf Gössner aus den jeweiligen Zusammenhängen
gerissen und als Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung uminterpretiert. Er
hat seine ohnehin schon weit gefassten Kompetenzen erheblich überschritten und
mit der zielgerichteten, vier Jahrzehnte langen Dauerüberwachung gegen den
Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Meinungs- und
Pressefreiheit sowie die Berufsausübungsfreiheit des Klägers sind dabei systematisch
und anhaltend missachtet worden.
Wörtlich heißt es im Urteil (S. 65): „Auf Seiten des Klägers ist zu
berücksichtigen, dass die – weithin bekannte – Sammlung von Daten zu seiner
Person im Hinblick auf seine journalistische Arbeit, aber auch seine
rechtsberatende Tätigkeit im parlamentarischen Raum als schwerwiegender Eingriff
in verfassungsrechtlich geschützte Positionen zu bewerten ist. Denn gerade ein
Journalist wird sich möglicherweise bei der Abfassung von Artikeln veranlasst
sehen, etwa bestimmte ‚Signalwörter’ zu vermeiden oder Kritik nicht so
drastisch zu formulieren wie eigentlich beabsichtigt (der Kläger sprach
diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung von der ‚Schere im Kopf’). Dabei kommt für den Kläger erschwerend
hinzu, dass vor allem bei Recherchen in seinem Haupttätigkeitsfeld ‚Innere
Sicherheit’ eine besondere Vertrauensbasis zu Auskunftspersonen nötig ist, die
durch eine Beobachtung seitens des Verfassungsschutzes erheblich tangiert
wird.“ Dies gilt prinzipiell auch für seine Anwalts- und Menschenrechtsarbeit.
Das Gericht stellte fest, dass auch scharfe,
provokante, polemische oder ironische Kritik an staatlichen Sicherheitsorganen
wie Polizei oder Geheimdiensten kein Grund für eine geheimdienstliche
Überwachung sein darf, genauso wenig wie Gössners substantiierte Kritik (das
BfV spricht von: „Agitation“) etwa am KPD-Verbot, an Berufsverboten, an der
Polizeientwicklung oder am „Verfassungsschutz“ selbst. Auch die bloße Kritik an
wesentlichen Elementen der Verfassung oder tragenden Bestandteilen der
freiheitlichen demokratischen Grundordnung, so die Richter, reiche als Anlass
nicht aus, um eine verfassungsfeindliche Bestrebung zu bejahen und einen
Staatskritiker unter geheimdienstliche Beobachtung zu stellen.
Das Gericht hat die vom BfV gesammelten und inkriminierten Textpassagen aus Artikeln, Interviews und Reden Gössners wieder in ihre inhaltlichen und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge gestellt und ausführlich Punkt für Punkt daraufhin überprüft, ob die Voraussetzungen für eine Erfassung und Speicherung durch den Verfassungsschutz gegeben waren. Desgleichen überprüfte das
Gericht Gössners frühere (zeitweilige) Mitgliedschaften in inkriminierten „Personenzusammenschlüssen“ wie dem „Sozialdemokratischen Hochschulbund“ (SHB) oder in der Redaktion der geheimdienstkritischen Zeitschrift „Geheim“ (Köln) sowie seine sporadischen Auftritte, Artikel oder Interviews etwa im Rahmen der DKP, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) oder der Rechtshilfegruppe „Rote Hilfe“. Solche beruflichen Einzelkontakte könnten nicht automatisch zu Unterstützungshandlungen zugunsten „linksextremistischer“ Parteien oder Organisationen erklärt werden. Der Verfassungsschutz habe insofern unverhältnismäßig und rechtswidrig gehandelt.
Das Gericht hat ohne Ausnahme in allen Punkten festgestellt, dass "keine tatsächlichen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung" vorliegen. Wörtlich: „Was allgemein seine (Gössners) Haltung zu verfassungsrechtlichen Grundlagen betrifft, fordert der Kläger in vielen Beiträgen gerade die strikte Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben ein…“ Deshalb hatte das BfV kein Recht, Daten über den Kläger in einer (über 2.000 Seiten umfassenden) Personenakte zu erfassen, zu speichern und zu verarbeiten.
F a z i t
„Deutlicher
hätte die Verurteilung der haltlosen Schnüffeleien und gesammelten Akten des Verfassungsschutzes
kaum ausfallen können“, erklärt
Liga-Präsidentin Fanny-Michaela Reisin heute in Berlin. Das Verwaltungsgericht
habe die jahrzehntelange Bürgerrechtsarbeit Gössners mit den Mitteln des
Rechtsstaats verteidigt und gegen die dunklen Machenschaften des Verfassungsschutzes
in Schutz genommen. „Diese
Rehabilitierung war überfällig, weil der Verfassungsschutz versucht hatte,
einen konsequenten Kritiker eben dieser rechtsstaatswidrigen und
verleumderischen Praxis der Geheimdienste in der Bundesrepublik zu
disqualifizieren und als Verfassungsfeind abzustempeln. Ein solcher
Verfassungsschutz steht offenkundig nicht im Dienst der Verfassung, sondern ist
vielmehr selbst eine große Gefahr für einen freiheitlich-demokratischen
Rechtsstaat.“
Gössners Anwalt Dr. Udo Kauß (Freiburg) ergänzt: „Die Urteilsbegründung des Gerichts ist ein Propädeutikum in Sachen Recht und vor allem Unrecht des Verfassungsschutzes. Der übliche verfassungsschützerische Sesam-öffne-Dich, der wegen Verdachts auf ‚Linksextremismus’ oder auf ‚linksextremistische Beeinflussung’ bei Kontakten zu bestimmten verfemten Gruppen und Organisationen wie DKP, VVN/BdA oder Rote Hilfe reflexartig die verfassungsschützerische Kontaminierung der Beteiligten auslöst, sollte - ein Stück mehr – der Vergangenheit angehören. Eine schallende Ohrfeige mit hoffentlich nachhaltiger Wirkung für die Erfassungspraxis nicht nur des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sondern aller bundesdeutschen Geheimdienste. Das Amt wird seine Beobachtungs- und Erfassungspraxis gründlich ändern müssen.“
Rolf Gössner fordert deshalb weit reichende
Konsequenzen aus diesem
Riesenskandal: „Ein solcher
Dauerrechtsbruch dürfte hierzulande nur selten einer staatlichen Institution
gerichtlich bescheinigt worden sein. Daraus sind dringend politische und
gesetzliche Konsequenzen zu ziehen – zumal wenn man bedenkt, dass es sich um
keinen Einzelfall handeln dürfte. Die Konsequenzen müssen an die Substanz
dieser undurchsichtigen und unkontrollierbaren Institution gehen. Hier hat ein
Geheimdienst nicht nur seine ohnehin zweifelhaften Befugnisse, Mittel und
Methoden missbraucht, vielmehr haben auch alle Kontrollinstanzen vollständig versagt.
Solchen intransparenten, kontrollresistenten und damit demokratiewidrigen
Institutionen sollte so rasch wie möglich die Lizenz zum Schnüffeln und zur
Gesinnungskontrolle entzogen werden und damit auch die Lizenz zum Schutz der
Verfassung. Im Übrigen ist diese langjährige, aufwändige Überwachungsgeschichte
- wegen Verschwendung öffentlicher Gelder - auch ein dringlicher Fall für den
Bundesrechnungshof.“
Pressemitteilung
der Internationalen Liga für Menschenrechte vom 3.02.2011
Urteil des Verwaltungsgerichts Köln im
Beobachtungsfall Gössner
Bundesamt
für Verfassungsschutz wegen vier Jahrzehnte langen Rechtsbruchs verurteilt
Liga: „Mit diesem sensationellen Urteil bescheinigt
das Gericht dem Verfassungsschutz einen beispiellosen Dauerrechtsbruch, der nur
noch als rechtsstaatswidrig und skandalös zu bezeichnen ist. Dieser
Verfassungsschutz schützt nicht die Verfassung, sondern ist offenbar selbst
eine Gefahr für den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat.“
Heute hat das Verwaltungsgericht Köln sein Urteil in
dem Verfahren Dr. Gössner ./. Bundesrepublik Deutschland verkündet, in dem es
um die fast 40jährige geheimdienstliche Beobachtung des Bürgerrechtlers Rolf
Gössner geht. Das Urteil lautet:
„Es wird festgestellt, dass die Beobachtung des
Klägers bis zum 13.11.2008 einschließlich der während dieses Zeitraumes
erfolgten Erhebung und –Speicherung von Daten zu seiner Person rechtswidrig
gewesen ist. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.“
Kläger Rolf Gössner: „Dieses Urteil ist eine herbe Niederlage für den Inlandsgeheimdienst,
dessen geheime Dauerüberwachungstätigkeit in vollem Umfang für unverhältnismäßig
und rechtswidrig erklärt wird.“ Liga:
„Diese skandalöse und rechtswidrige Langzeitüberwachung darf nicht ohne
drastische politische Konsequenzen bleiben – zumal wenn man bedenkt, dass es
sich hier um keinen Einzelfall handeln dürfte. Diese aufwändige
Überwachungsgeschichte ist auch ein ganz dringlicher Fall für den
Bundesrechnungshof - wegen Verschwendung öffentlicher Gelder.“
Gössners Anwalt Dr. Udo Kauß: „Diese Entscheidung ist wirklich ein Meilenstein. Dem Schutz der BürgerInnen vor staatlicher Überwachung wurde nach 5jährigem Rechtstreit zumindest rückwirkend Geltung verschafft. Die im Prozess vom Bundesamt für Verfassungsschutz für sich in Anspruch genommene Deutungshoheit über das, was in diesem Staat zulässiger Weise gesagt und geschrieben werden darf, ist diesem Geheimdienst entzogen worden. Eine schallende Ohrfeige mit hoffentlich nachhaltiger Wirkung für die Erfassungspraxis nicht nur des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sondern aller bundesdeutschen Geheimdienste. Das Amt wird seine Beobachtungs- und Erfassungspraxis gründlich ändern müssen.“
Rolf Gössner stand seit 1970
ununterbrochen unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) –
schon als Jurastudent, später als Gerichtsreferendar und seitdem ein Arbeitsleben
lang in allen seinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist,
Rechtsanwalt und parlamentarischer Berater, später auch als Präsident/Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte
und als Mitherausgeber des alljährlich erscheinenden Grundrechte-Reports, seit 2007 als gewähltes (parteiloses)
Mitglied der Innendeputation der Bremer Bürgerschaft und selbst noch als stellvertretender
Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Erst am 13.11.2008, unmittelbar
vor der 1. mündlichen Verhandlung, wurde die Beobachtung überraschend und
mit erstaunlicher Begründung eingestellt.
Es dürfte die längste Dauerbeobachtung einer unabhängigen Einzelperson durch
den Geheimdienst sein, die bislang dokumentiert werden konnte – ohne dass diese
jemals selbst als „Extremist“ oder „Verfassungsfeind“ eingestuft wurde.
Ohne die Klage gegen den Verfassungsschutz, so ist
sich die Liga sicher, wäre ein Ausstieg aus dieser Überwachungsgeschichte wohl
kaum erfolgt, so dass Rolf Gössner womöglich weiterhin, bis ins hohe Rentenalter, unter Beobachtung stünde.
Das Gericht war in diesem Verfahren vor die schwierige
Aufgabe gestellt, trotz der vom BfV aus Geheimhaltungsgründen - Quellenschutz,
Ausforschungsgefahr, Staatswohl - nur unvollständig vorgelegten 2.000seitigen
Personenakte eine Entscheidung treffen zu müssen. Außerdem prallten in dem
Verfahren "zwei Denkwelten“ aufeinander, wie der Vorsitzende Richter feststellte.
Das Gericht problematisierte dabei auch, dass durch die einseitige Auswahl des erfassten
Materials durch die Beklagte "zwangsläufig ein falsches Bild" vom
Kläger und von dessen beruflichen und rechtspolitischen Aktivitäten entstehen
müsse. Schon deshalb habe Rolf Gössner ein berechtigtes "Rehabilitierungsinteresse",
dem das heutige Urteil in vollem Umfang entspricht.
Rolf Gössner drückte bereits vor Gericht „sein Bedauern
darüber aus, dass durch diese unsinnige, geradezu absurde
Überwachungsgeschichte so viel Lebenszeit und -kraft vergeudet wurde und dass
zwei Gerichte – das Verwaltungsgericht Köln und das Bundesverwaltungsgericht - mit
aufwändigen Verfahren belästigt werden“ mussten. „Aber dieser mühsame Kampf war nun mal notwendig, um wenigstens zu
versuchen, ein wenig Licht ins Dunkel geheimdienstlicher Machenschaften zu bringen
und solch ausufernde Geheimdiensttätigkeit künftig zu bändigen.“
„Mir war
immer klar, dass mit mir gewissermaßen
eine ganze Generation von engagierten Menschen mitklagte, die sich seit den
späten 60er Jahren in unterschiedlichen Aktivitäten und Berufen linkspolitisch
betätigten oder weiterbetätigen, und dabei möglicherweise ebenfalls mehr oder
weniger lang ins Visier des Verfassungsschutzes geraten sind. Vielleicht habe
ich deshalb so viel Zuspruch und Solidarität empfangen, für die ich mich
herzlich bedanken möchte, weil ich mich in gewisser Weise auch stellvertretend
zur Wehr gesetzt und geklagt habe.“
Diese Überwachungsgeschichte und das Gerichtsverfahren
zeigen in aller Deutlichkeit, so die Liga, „welche
Gefahren für Persönlichkeitsrechte, für Informationelle Selbstbestimmung, Meinungs-
und Pressefreiheit, Mandatsgeheimnis und Informantenschutz mit Geheimdiensten
und ihren klandestinen Aktivitäten verbunden sind.“
Rolf Gössner: „Dass
ein Geheimdienst wie der Verfassungsschutz über vier Jahrzehnte unkontrolliert
und rechtswidrig eine unabhängige Einzelperson beobachten, personenbezogene
Daten erfassen, sammeln, auswerten und übermitteln kann und dass er dann auch
noch den größten Teil der Personenakte geheim halten darf, beweist die These,
dass es sich letztlich um eine demokratieunverträgliche Institution handelt,
für die das Prinzip demokratischer Transparenz und Kontrollierbarkeit praktisch
nicht gilt.“
Dieses Urteil hat nach
Auffassung der Liga über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung, denn
es geht um ein brisantes Problem, das auch andere Publizisten, Rechtsanwälte
und Menschenrechtler betrifft: Welche Grenzen sind den kaum kontrollierbaren
Nachrichtendiensten und ihren geheimen Aktivitäten gezogen – gerade im Umgang
mit Berufsgeheimnisträgern und im Rahmen unabhängiger Menschenrechtsarbeit
von Nichtregierungsorganisationen?